Grossmann, Richard
Richard Grossmann ist am 29.9.1902 in Pforzheim geboren. Er muss 1921 das Gymnasium in Pforzheim verlassen, da er einen Lehrer ohrfeigte. Nach dem Abitur in Wertheim studiert er an verschiedenen Universitäten als Werkstudent Theologie, Philosophie, Medizin und auch Kunstgeschichte. Über Wolfgang Frommel* kommt er in Kontakt zum George-Kreis*. Nach mehrfachen Aufenthalten in der Schweiz lebt er ab 1931 ständig in der Schweiz. Er hat Kontakte zu Sozialdemokraten* wie Theo Haubach und Carlo Mierendorff. 1936 ist er bei einem Treffen einer deutsch-jüdischen Freundesgruppe in Saas (Graubünden) beteiligt, unter ihnen auch der Nazi-Gegner Carlo Schmid, bei dem „über die Zustände in deutschen Konzentrationslagern“ berichtet wird, „von denen in Deutschland kaum jemand etwas ahnte“.
1938 verlässt er die Schweiz, geht zuerst zurück nach Pforzheim und dann nach Stuttgart, wo er sich eine berufliche Existenz als Vertreter bzw. Vermittler von Exporten von Industriewaren ins europäische Ausland aufbaut.
Ebenfalls 1938 heiraten Veronika Kutter, verw. Pestalozzi, und er in Stuttgart. Am 10.6.1939 kommt der Sohn Peter zur Welt, Mutter ist Grossmanns Lebensgefährtin Rona Jehn.
Nach dem 1.9.1939, dem Überfall der Naziwehrmacht auf Polen, braucht er für Reisen nach Italien, Dänemark, Schweden und v.a. in die Schweiz einen Pass, wofür er sich gegenüber dem „Sicherheitsdienst“ in Stuttgart verpflichtet, aus dem Ausland zu berichten und „im Sinne Großdeutschlands zu handeln“. Ab 1940 wird er als V-Mann des Auslandsnachrichtendienstes des RSHA (Reichssicherheitshauptamt)* geführt.
1940 lässt er sich vom britischen Konsul in der Schweiz namens Walker anwerben. Er fabriziert mithilfe des US-Generalkonsuls Sam Woods, der Kreise um den früheren Reichskanzler Joseph Wirth und von Allen Dulles, dem Leiter des OSS (Office of Strategic Services, i.e. Nachrichtendienst der US-Armee) Nachrichten für seinen Vorgesetzten beim SD (Sicherheitsdienst, siehe RSHA), Klaus Hügel in Stuttgart. Er informiert diesen auch über seine Kontakte in der Schweiz. Grossmanns Tätigkeit – so Hügel 1946 – „war bewusst als Doppelspiel aufgebaut. Die Frage, inwieweit er in erster Linie die deutschen Interessen oder die Interessen der Gegenseite wahrgenommen hat, war für uns stets eine sehr problematische Frage“. Am 20.8.1944 wird Grossmann verhaftet und u.a. im Gefängnis Berlin-Plötzensee eingesperrt. In Schreiben von Ernst Kaltenbrunner, Leiter des RSHA, und Walter Schellenberg (RSHA) wird die Einweisung von Grossmann in ein Konzentrationslager angeordnet. Am 16.12.1944 wird er ins KZ Sachsenhausen eingeliefert. Im Schreiben von Schellenberg sind Grossmanns antinazistische Tätigkeiten aufgeführt:Er habe Berichte, die für den SD bestimmt waren, einem KPD-Mann in Stuttgart gezeigt, er habe trotz anderslautender Weisung mit KPD-Kreisen Kontakt gehalten, er habe über seine Besprechungen mit Woods nicht berichtet, er habe mehrfach „defätistische Äußerungen“ gemacht, „die seine sonst zur Schau getragene nationalsozialistische Einstellung stark in Zweifel ziehen“. In der „Schutzhaftanordnung“ heißt es: „Er gefährdet durch sein Verhalten den Bestand und die Sicherheit des Volkes und Staates, indem er zu der Befürchtung Anlass gibt, er werde sich als Geheimnisträger zum Schaden des Reiches betätigen“.
Auch aus anderer Quelle wird die antinazistische Tätigkeit Grossmanns belegt. Der in die Schweiz geflohene Kommunist Richard Binder aus Stuttgart erklärte 1944 gegenüber der Bundesanwaltschaft der Schweiz: „In Wirklichkeit sei er [i.e. Grossmann] gegen das bestehende Regime und sei bereit, uns in unserem Kampf mit allen Mitteln beizustehen… Grossmann erklärte mir, durch die Menschenverfolgungen der Nazis habe er einen so tiefen Hass gegen diese, dass er alles einsetze, um ihnen zu schaden“. Grossmanns Kontakte zu illegalen KPD-Kreisen in Stuttgart und von deren Treffen in seinem Stuttgarter Büro 1943/44 werden 1947 von dem Kommunisten Hermann Auch aus Echterdingen bestätigt.
Im KZ Sachsenhausen gilt er unter den Häftlingen als Gestapo-Spitzel. Zum Schein lässt er sich in Absprache mit kommunistischen Mithäftlingen auf eine Zusammenarbeit mit der Gestapo ein, kooperiert aber tatsächlich mit KPD-Kadern, die zum illegalen Lagerkomitee gehören. Beim Todesmarsch aus dem KZ Sachsenhausen Richtung Ostsee ab dem 21.4.1945 kann er fliehen. Nach der Flucht wird er Anfang Mai 1945 in Mecklenburg bzw. nach anderen Angaben in Berlin erneut verhaftet, diesmal von einem Agenten der Spionageabwehr des NKWD, i.e. "Volkskommissariat für innere Angelegenheiten der UdSSR", er gilt als „feindliches Element“ bzw. als „Gestapo-Agent“. Am 18.5.1945 wird er durch die Sowjets verhört. Seine Aussagen über seine anti-nazistischen Tätigkeiten werden nicht gewürdigt. Nach verschiedenen Zwischenstationen wird er im August 1945 wieder im ehemaligen Konzentrationslager Sachsenhausen eingesperrt. Bis 1950, also noch nach der Gründung der DDR, ist er ohne Anklage und Urteil im ehemaligen Konzentrationslager Sachsenhausen, zeitweise auch im „Sonderlager“ Hohenschönhausen eingesperrt. Am 15.7.1950 „verurteilt“ ihn ein sowjetisches Schnellgericht - auf dem Territorium der DDR und ohne den Schein eines rechtsstaatlichen Verfahrens wegen „Spionage und Zersetzungstätigkeit“ zu 25 Jahren Zwangsarbeit. Am 11.9.1950 wird er aus dem Gefängnis Lichtenberg/Berlin ins Zwangsarbeiterlager Workuta/Retschnoi am nördlichen Ende des Urals nördlich des Polarkreises verschleppt.
Am 29.9.1955 erfährt er von seiner Amnestierung, als „Spätheimkehrer“ kommt er am 12.1.1956 im Grenzdurchgangslager Friedland an, am 19.1.1956 ist er wieder in Stuttgart. Nach Stationen in Köln und Barcelona lebt er ab 1966 in Freiburg.
Er stirbt 1976 und ist im Familiengrab Grossmann auf dem Hauptfriedhof in Pforzheim beigesetzt.
Auf Betreiben seines Sohnes Peter Jehn wird er am 5.9.2007 von der Generalstaatsanwaltschaft der Russischen Föderation rehabilitiert. Damit wird das Unrechtsurteil vom 15.7.1950 aufgehoben.
* Wolfgang Frommel, George-Kreis: https://de.wikipedia.org/wiki/Wolfgang_Frommel
* RSHA: www.zukunft-braucht-erinnerung.de/das-reichssicherheitshauptamt-rsha/
Quelle:
Jehn, Peter: Richard Grossmann, Biografische Elemente seines Lebens (1902 – 1976), Freiburg, 2018 (unveröffentlichtes Manuskript)