Zum Inhalt springen
  • Bewölkt: 85-100% 5 °C
  • Kontrast
  • Leichte Sprache

Kant, Lina (Gewerkschaft)

Lina Kant ist am 15.8.1898 in Pforzheim geboren. Ihr Vater ist Graveur, wird um 1900 als Streikführer entlassen und hat es schwer, anschließend wieder Arbeit zu finden. 1925 wird er von der SPD* als „Parteiveteran“ geehrt. Seine Tochter Lina absolviert eine Ausbildung bei der Schmuck-Firma Martin Mayer und besucht die Höhere Handelsschule mit dem Schwerpunkt Sprachen. Daneben lernt sie die Gabelsberger Kurzschrift, eine Vorform der heutigen Stenografie, und gewinnt mehrfach Preise bei Kurzschrift- Wettbewerben. Sie gehört auch zur Prüfungskommission für Kurzschrift und Maschinen-Schreiben an der Höheren Handelsschule Pforzheim. Fast drei Jahre arbeitet sie bei der Allgemeinen Orts-Krankenkasse (AOK), dann zwei Jahre als Kauffrau im Schmuckbereich und ab 1920 als Sekretärin beim Allgemeinen Deutschen Gewerkschafts-Bund (ADGB) in der Klostermühle, dem Gewerkschaftshaus in der Gymnasiumstraße. In dieser Gegend, einem Arbeiterviertel in der Oststadt, war sie aufgewachsen und wahrscheinlich auch politisch-gewerkschaftlich geprägt worden, dies sicher auch über ihr Elternhaus. Im Nachruf 1976 heißt es später: „Sie war in der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung aktiv und ein unermüdlicher Kämpfer für die Gleichberechtigung der Frauen zu einer Zeit, als dies noch nicht dieselbe Unterstützung erfuhr wie heute, und führte diesen Kampf unermüdlich fort“.

Da sie aufgrund ihrer Ausbildung und beruflichen Tätigkeit Englisch, Französisch, Italienisch und Spanisch kann, ist sie in der Wirtschaftskrise 1923 mit rasender Inflation und steigender Arbeitslosigkeit vor allem in der Traditionsindustrie in Pforzheim flexibel genug, außerhalb Deutschlands Arbeit zu finden. Ab 1923 ist sie bei der Internationalen Transportarbeiter-Föderation (ITF)* in Amsterdam. Die ITF ist die übernationale Gewerkschaft im Transportwesen, also z.B. der Eisenbahner und Seeleute, und kompromissloser als die sozialdemokratisch orientierten Gewerkschaften in Deutschland. Bei der ITF lernt sie Gordon Clutterbuck kennen, nach der Heirat 1925 kommen 1929 die Tochter Ursula, später Pianistin, und 1931 der Sohn Ernest, später Doktor der Chemie, zur Welt. Im Lauf der Arbeit erweitert sie ihre Sprachkompetenz um Holländisch, Arabisch und Persisch.

Nach dem Machtantritt der Nazis 1933 in Deutschland, der Besetzung der Gewerkschaftshäuser wie am 2. Mai 1933 auch in Pforzheim der Klostermühle, Linas vorigem Arbeitsplatz, und der Zerschlagung der freien Gewerkschaft versucht die ITF-Zentrale in Amsterdam, Kontakte zu noch aktiven Gewerkschaftern in Deutschland herzustellen. Bereits im Sommer 1933 erscheint die Zeitung „Hakenkreuz über Deutschland“, später Flugschriften wie „Faschismus“ und „Fahrt-frei“. Sie werden von Eisenbahnern und Seeleuten in Fernzügen und auf Rheinschiffen nach Deutschland geschmuggelt und unterstützen den illegalen Widerstand gegen die Nazi-Herrschaft. Für diese lebensgefährliche Widerstandsarbeit vom Ausland aus eignen sich Personen, die wie Lina Kant-Clutterbuck im „Reich“ keine Sprachprobleme haben, keinen Verdacht erregen und aufgrund ihres Auslandsaufenthaltes den Nazis nicht als Gegner bekannt sind.

So unternimmt Lina Kant-Clutterbuck im Auftrag der ITF mehrere Kurier-Fahrten aus den Niederlanden ins „Reich“, um die oben genannten Flugschriften für deutsche Arbeiter zu transportieren, Titel sind „Hakenkreuz über Deutschland“, „Faschismus“ oder „Fahrt-frei“. In den Berichten der ITF wird sie als „direkt, kämpferisch und furchtlos“ beschrieben, es heißt, sie habe die illegalen Flugschriften in der Unterwäsche versteckt ins „Reich“ geschmuggelt. Im Gegensatz zu vielen anderen Kurieren wird sie nie erwischt. Wie sie 1940 trotzdem ins Visier der Gestapo kommt, bleibt ein Rätsel. Nach dem Überfall der Nazi-Wehrmacht auf Polen 1939 verlegt die ITF ihr Hauptquartier von Amsterdam nach Bedford, später nach London in Großbritannien.

Im Frühjahr 1940 steht Lina Kant-Clutterbuck im „Schwarzen Buch“, einer „Sonderfahndungsliste GB“ mit 2 820 Namen von Nazi-Gegnern in Großbritannien in einer Liste von „Pazifisten, Defätismus und Anti-Nazi-Aktivitäten“ - die Liste taucht erst 1945 in den Ruinen des Reichssicherheitshauptamtes in Berlin auf. Gesucht wird sie von der Gestapo Amt IV A 1 b, das sich mit „Gegnerbekämpfung: Kommunismus, Marxismus und Nebenorganisationen, Kriegsdelikte, illegale und Feindpropaganda“ befasst.Diese Liste für SS-Sonderkommandos sollte im Falle einer erfolgreichen Invasion in Großbritannien dazu dienen, die den Nazis bekannten Gegner „festzunehmen und zu beseitigen“.

Sie ist in der „schwarzen Liste“ zweimal aufgeführt, einmal als „Clutterbuck“ und auch als „Kant“. Ob den Nazis bekannt ist, dass es sich um ein und dieselbe Person handelt, muss offen bleiben. Frieda Jahn, eine Mitarbeiterin der ITF, die mehrfach Kurierfahrten ins „Reich“ unternahm, soll den Decknamen „Lina Kant“ benutzt haben. In Verhören nach ihrer Festnahme 1940 hat sie den Namen „Lina Kant“ als Decknamen bestritten und diese als ITF-Mitarbeiterin genannt. Die Eltern von Lina Kant-Clutterbuck in Pforzheim werden zwar verhört, jedoch nicht verhaftet.

Nach 1945 besucht Lina Kant-Clutterbuck noch mehrfach ihre Eltern und ihre Schwester in Pforzheim. Ihr Sohn Ernest berichtet von guten Beziehungen zu Nachbarn auf dem Rodrücken. Mit dem Tod der Mutter 1976 enden die Kontakte nach Pforzheim. Erst durch Forschungen nach Nazi-Gegnerinnen aus Baden kommt nach Umwegen über Archive in Amsterdam und London die Geschichte der Gewerkschafterin aus der Gymnasiumstraße ans Licht.

Harold Lewis, Chronist der ITF, erinnert sich, seine ITF-Kollegin sei zurückhaltend gewesen und nicht daran interessiert, viel Aufhebens um ihre Aktivitäten zu machen. Der Sohn Ernest Clutterbuck bestätigt, dass Lina Kant-Clutterbuck in der Familie nie von ihren Widerstands-Aktivitäten gesprochen hat. Er freut sich, dass nun eine kurze Biografie seiner Mutter erscheint, ihr Name auf der „Schwarzen Liste“ sei ein Beleg dafür, „dass meine Mutter die Nazi-Autoritäten beträchtlich ‚geärgert‘ hat“.

Lina Kant stirbt 1976.

 

Quellen:

in der Veröffentlichung des DGB Region Nordbaden: nordbaden.dgb.de/themen/++co++9dbccb54-1f5a-11e7-99fc-525400e5a74a