Der berühmteste Sohn der Stadt heißt Johannes Reuchlin. Er wurde 1455 in Pforzheim geboren und trug zeit seines Lebens stolz den Beinamen "Phorcensis" ("aus Pforzheim").
Neben Erasmus von Rotterdam zählt Reuchlin zu den wichtigsten europäischen Humanisten. Eines seiner Hauptanliegen war es, durch Sprachenstudium die lateinischen, griechischen und hebräischen religiösen und philosophischen Urtexte wieder zu erschließen. Damit wurde er zu einem der Vorläufer der Reformation. Heute gilt Reuchlin als Vorbild der Toleranz und des interreligiösen Dialogs, da er sich vehement für den Erhalt des jüdischen Schrifttums einsetzte.
Seit 2008 ist das Museum Johannes Reuchlin an der Schloßkirche der Ort, an dem sich Besuchende mit Leben, Werk und Wirken des Humanisten auseinandersetzen können.
Seit 1955 verleiht die Stadt Pforzheim außerdem im 3-Jahres-Turnus den Reuchlinpreis für hervorragende geisteswissenschaftliche Leistungen; ebenfalls im 5-Jahres-Turnus finden wissenschaftliche Reuchlinkongresse statt.
Mehr zu Johannes Reuchlin
Wer war Reuchlin? Vita
Anwalt der Menschenrechte
Vor fünfhundert Jahren lebte der europäische Humanist Johanes Reuchlin, geboren 1455 in Pforzheim – der erste Anwalt der Menschenrechte: Humanist, Jurist und Bundesrichter, Literat und Laientheologe.
Reuchlin erhob seine Stimme als Anwalt im Namen der Toleranz, um Menschenrechte und respektvollen Dialog einzufordern. Eine Botschaft, die heute mit Blick auf eine zunehmend säkulare Gesellschaft mit ihrer Vielzahl an Lebensentwürfen aktueller denn je ist.
„Reuchlin gehört allen“ war deshalb das Motto des Jubiläumsjahrs, das 2022 an verschiedenen Orten in Europa begangen wurde, um diesen Humanisten in die europäische Erinnerung einzuschreiben.
Wer war Johannes Reuchlin?
Johannes Reuchlin (1455-1522) lebte an einer Zeitenwende. Dramatischer Höhepunkt seines Lebens war der Streit um die Verbrennung der Bücher der Juden.
Warum ist dieses Ereignis bis heute unvergessen? Damals unterstützte der Dominikanerorden in Köln eine printmediale Kampagne, Juden als Andersgläubige mit Zwang zum Christentum zu bekehren. Kaiser Maximilian ordnete 1509 an, gegen die jüdischen Religionsgemeinden in Frankfurt, Mainz und Worms vorzugehen und die hebräischen Schriften zu beschlagnahmen. »Soll man diese jüdischen Bücher verbrennen?« so lautete die Frag des Kaisers an verschiedene Gutachter.
Reuchlin nutzt seine einflussreiche Position als Bundesrichter und Hebräisch-Experte, um für die Rechte der jüdischen Minderheit einzutreten. Er warnte: »Viel Schlimmes könnte daraus entstehen, würden wir ihre Bücher verbrennen.«
Wie sich bald zeigte, stand Reuchlin mit seiner Haltung allein gegen die theologischen Gutachter namhafter Universitäten wie Köln und Heidelberg. Nach persönlichen Angriffen seiner Gegner machte er seinen Standpunkt im Herbst 1511 öffentlich, ließ sein Gutachten unter dem Titel »Augenspiegel« in deutscher Sprache drucken und auf der Messe in Frankfurt verbreiteten: Verbrennt nicht, was ihr nicht kennt!
Reuchlins »Augenspiegel« - ein Meilenstein auf dem Weg zu Religionsfreiheit und Toleranz
Wegen des »Augenspiegels« landete Reuchlin auf der Anklagebank des Kirchengerichts. An einer printmedialen Kontroverse um den »Augenspiegel« beteiligten sich Menschen aus ganz Europa (»Judenbücherstreit«). Mit seinem Manifest für Recht, Freiheit und Toleranz schuf Reuchlin eine mutige und kraftvolle Gegenerzählung zu den populären Vorurteilen und Verschwörungsmythen, die die Randgruppe der Juden als Feinde der Gesellschaft brandmarkte. Er trat den Hasspredigern mutig entgegen, schilderte Vielfalt nicht als Bedrohung, sondern als Bereicherung. Jüdische Kultur, so Reuchlin, führe zu den Quellen und müsse als Beitrag zum Renaissance-Humanismus erforscht und wertgeschätzt werden.
Im »Augenspiegel« präsentierte Reuchlin das Ergebnis des eigenen Lernprozesses, mit dem er seiner Zeit weit voraus war: Juden, Christen und Muslime betrachtete er als Geschwister auf der Suche nach Wahrheit und Gotteserkenntnis: »Ich rate dazu, dass diejenigen, die außerhalb unseres Glaubens stehen, seien es Juden, Griechen oder Muslime, durch keinerlei Zwang auf unsere Seite gezogen werden dürfen.«
Von Seiten der Kirche wurde Reuchlin 1520 wegen seiner abweichenden Haltung zum Schweigen verurteilt – doch seine Botschaft erwies sich als ein Meilenstein auf dem Weg zu Religionsfreiheit und Toleranz.
Renaissance-Humanismus
Das französische Wort »Renaissance« bedeutet »Wiedergeburt«, eine neue Sicht auf die Welt. Gemeint ist die Neubesinnung auf die europäische Kultur der Antike, deren Werte an der Schwelle zur Neuzeit (um 1450–1500) durch die humanistische Bewegung neu erschlossen wurden. Zum Weltbild des Renaissance-Humanismus gehörte die Entdeckung des Menschen als Individuum, der Geschichte schreibt und gestaltet und sich von der absoluten Autorität der mittelalterlichen Kirche emanzipiert. Johannes Reuchlin und sein Freund Erasmus von Rotterdam teilten diese Ansichten. Alle Menschen, so erklärte der italienische Philosoph Giovanni Pico della Mirandola in seiner Rede »Über die Würde des Menschen«, sind von Gott mit Würde begabt und haben die Freiheit, emporzustreben und aus ihrem Leben etwas zu machen.
Reformation
Reuchlin war kein Anhänger der Reformation
Reformation (lateinisch reformatio »Wiederherstellung, Erneuerung«) bezeichnet im engeren Sinn eine kirchliche Erneuerungsbewegung. Diese wurde vom Renaissance-Humanismus ausgelöst. Die reformatorische Bewegung war vielfältig und führte zur Spaltung des westlichen Christentums in verschiedene Konfessionen (katholisch, lutherisch, reformiert). Ihr Beginn wird traditionell auf 1517 datiert, als Martin Luther seine 95 Thesen an die Tür der Schlosskirche zu Wittenberg angeschlagen haben soll. Aus der Wittenberger Reformation ging das Luthertum hervor, aus der Schweizer Reformation die reformierte Kirchenfamilie. Erasmus von Rotterdam und Johannes Reuchlin, die beiden führenden deutschsprachigen Humanisten, befürworteten zwar eine Erneuerung der Kirche, lehnten jedoch die Kirchenspaltung ab und blieben katholisch.
Reuchlin als Pionier des interkulturellen Dialogs
»Reuchlin! Wer will sich ihm vergleichen, zu seiner Zeit ein Wunderzeichen« (Johann Wolfgang von Goethe, 1827)
Johannes Reuchlin, der Humanist, Bundesrichter und Politikberater, schuf mit seinem Einsatz für Religionsfreiheit, seiner Absage an Hass und Fanatismus an der Schwelle der Neuzeit einen Projektionsraum für die Schlüsselbegriffe Toleranz, Respekt, interkultureller Dialog und Menschenwürde - Werte und Prinzipien, die für die Koexistenz der Menschheit auf dem Planeten Erde im 21. Jahrhundert mehr denn je unverzichtbar sind.
Vita Johannes Reuchlin
1455 Geburt in Pforzheim (29. Januar)
1470–1482 Studium an den Universitäten Freiburg, Paris, Basel, Orléans und Poitiers
1482 Reise nach Florenz als Begleiter von Graf Eberhard im Bart
1484/85 Promotion zum Doktor des kaiserlichen Rechts
1492 Aufenthalt am Kaiserhof in Linz (Donau), Erhebung in den erblichen Adelsstand
1496–1499 Aufenthalt in Heidelberg am Hof von Johann von Dalberg, Bischof von Worms
1502 Wahl zu einem der drei Richter des Schwäbischen Bundes mit Sitz in Tübingen
1506 Veröffentlichung der Sprachlehre des Hebräischen für Christen (»(De rudimentis hebraicis«)
1510 Vertrauliches Gutachten an Kaiser Maximilian: »Ratschlag, ob man den Juden alle ihre Bücher nehmen, abtun und verbrennen soll«
1511 Veröffentlichung des Gutachtens von 1510 unter dem Titel »Augenspiegel« in deutscher Sprache
1513–1520 Mediale Kontroverse um den »Augenspiegel« und Kirchengerichtsprozess durch sämtliche Instanzen
1515 Veröffentlichung »Briefe gelehrter Männer)
1517 Veröffentlichung »Die Wissenschaft der Kabbalistik« (»De arte Cabbalistica«)
1518 Veröffentlichung »Schreibweise und Akzentsetzung in der hebräischen Sprache (»De accentibus et orthographia linguae hebraicae«)
Um 1519 Weihe zum Priester der Stuttgarter Salve-Regina-Bruderschaft
1520 Lehrstuhl für Griechisch und Hebräisch zunächst an der Universität Ingolstadt, ab 1522 in Tübingen
1520 Kirchenrechtliche Verurteilung zum ewigen Stillschweigen und Verbot des »Augenspiegel«
1522 Bücherstiftung an das Pforzheimer Michaelsstift, Tod in Stuttgart (30. Juni), Beisetzung in der Leonhardskirche
Reuchlin und Europa
Positionspapier: Reuchlin und Europa
Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Reuchlinjahres 2022 haben in Abstimmung mit der Kulturhistorikerin Aleida Assmann ein gemeinsames Positionspapier verabschiedet, dessen Kernsatz lautet:
»Wir rufen gemeinsam dazu auf, den großen europäischen Humanisten Johannes Reuchlin aus Pforzheim (1455-1522) ins Gedächtnis der europäischen Erinnerungskultur einzuschreiben.«
Aus der Begründung:
- »Reuchlin widersetzte sich dem politischen und religiösen Trennungswahn seiner Zeit und suchte umgekehrt nach einer Wahrheit, die Juden, Christen und Muslime verbindet. (aus Pos+papier 2022)
- Mit seinem Einsatz für Toleranz, Respekt und Menschenrechte legte Reuchlin den Grund zu den humanistischen Werten, zu denen sich das moderne Europa heute bekennt.«
Museum Johannes Reuchlin
2008 wurde das Museum Johannes Reuchlin an der Schloßkirche eingeweiht. Es trat an die Stelle der einstigen, an den Stiftschor angebauten Kirchenbibliothek, die am 23. Februar 1945 dem schweren Luftangriff zum Opfer fiel. Die Initiative zum Wiederaufbau geht auf den Verein Freunde der Schloßkirche zurück, der den Architekten Professor Bernhard Hirche (Hamburg) mit der Entwurfsplanung beauftragte.
Hirche gelang ein Spagat: Er vereinte die Annäherung an das Bild des kriegszerstörten Vorgängerbaus mit einer erkennbar zeitgenössischen Formensprache der Ausstellungsarchitektur, zudem respektierte er die baulichen Bestandsreste im Sinne einer spurensichernden Denkmalpflege.
Der Innenraum des Museums ist ein »Einraum« (B. Hirche). Dessen innenarchitektonische Gestaltung erinnert an die einstige Kirchenbibliothek, die Reuchlin 1522 durch seine Bücherstiftung bereichert hatte. Die transparente Ausstellungsarchitektur ist als Stahl- Glas-Konstruktion von der Decke abgehängt. Sie verleiht dem Innenraum sein besonderes Flair mit »schwebenden« Ausstellungsebenen und gläsernen Vitrinen. Als mahnende Erinnerung an den Akt der Kriegszerstörung ist die südliche Chorwand mit ihren Wunden in voller Höhe sichtbar belassen (»Wand des Humanismus«).
Vom Museum führt ein direkter Zugang zum spätgotischen Stiftschor, der einst Versammlungsort der gelehrten Stiftsherren war. Seit 1556 diente dieser als Grablege der markgräflich- badischen Familie und wurde mit aufwändigen Grabdenkmälern im Stil der Spätrenaissancezeit künstlerisch gestaltet. Neu im Stiftschor ist die Klanginstallation »Genesis«, ein Musikwerk als Hommage an Johannes Reuchlin.
Das Museum Johannes Reuchlin versteht sich als Lernort und Stätte des Humanismus. Es ist Mitglied im Netzwerk der Arbeitsstelle der literarischen Museen, Archive und Gedenkstätten (alim) in Baden-Württemberg.
Hier geht es zur Homepage des Museum Johannes Reuchlin
Reuchlingedenken
Reuchlinpreis
Zum Anlass der Feier des 500. Geburtstags stiftete die Stadt Pforzheim 1955 den Reuchlinpreis, der im Beisein des damaligen Bundespräsidenten Professor Theodor Heuss erstmals verliehen wurde. Dieser geisteswissenschaftliche Preis wird seither auf Vorschlag der Heidelberger Akademie der Wissenschaften alle zwei bis drei Jahre an renommierte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler verliehen, die sich mit deutschsprachigen Arbeiten im Sinne der Botschaft Reuchlins ausgezeichnet haben. Die eindrucksvolle Reihe der Preisträgerinnen und Preisträger liest sich wie ein Who-is-Who der deutschsprachigen Geisteswissenschaften.
Liste der Preisträgerinnen und Preisträger
Pforzheimer Reuchlinschriften und internationale Reuchlinkongresse
Um die Erforschung von Reuchlins Leben, Werk und Wirkung im Kontext des europäischen Renaissance-Humanismus besser zu verstehen und voranzutreiben, startete die Stadt Pforzheim 1961 die Reihe der Reuchlinschriften. Ab 1991 kamen die internationalen Reuchlin-Kongresse hinzu. Beide Formate entwickelten sich zu Foren des wissenschaftlichen Austauschs mit internationaler Strahlkraft: Reuchlinpreis, Reuchlinschriften und Reuchlinkongresse brachten Vertreterinnen und Vertreter unterschiedlichster Fachdisziplinen, Institutionen und Konfessionen an den Konferenztisch und gaben der internationalen Humanismus- und Antisemitismusforschung nachhaltige Impulse.
Verzeichnis der Pforzheimer Reuchlinschriften und internationale Kongresse
Reuchlin und die jüdische Kultur
Erforscht das Fremde, zerstört es nicht
Reuchlin warb für einen inklusiven Begriff von Humanismus: Er sah das jüdische Kulturerbe ebenso wie das griechische und römische als wertzuschätzenden Bestandteil der europäischen Renaissance an: »Wir Lateiner trinken Wasser aus dem Sumpf, die Griechen aus den Bächen, die Juden aber aus den Quellen.« Durchsetzten konnte er sich nicht.
Insbesondere kirchliche Institutionen positionierten sich weiterhin offen bzw. latent antisemitisch; Hebraistik und Orientalistik wurden als Nischenfächer an den Universitäten marginalisiert. Ein gesellschaftliches Umdenken bewirkte erst die erschütternde Erfahrung der Shoa im 20. Jahrhundert.
Reuchlin gehört allen
„Reuchlin gehört allen“ – Spielend zu Reuchlin
Das Motto „Reuchlin gehört allen“ war handlungsleitend für das das Reuchlinjahr 2022, in dem Reuchlins 500. Todestag gedacht wurde. Doch wie nähert man sich einer historischen Person, die vor 500 Jahren gelebt hat?
Hätte Reuchlin heute und nicht vor über 500 Jahren gelebt, wäre er bestimmt auf allen Kommunikationskanälen aktiv gewesen. Nicht nur europa-, sondern weltweit. Seine Vielsprachigkeit wäre ihm sehr entgegen gekommen. Er hätte PC, Laptop und Smartphone benutzt und wäre garantiert ein eifriger User der sozialen Medien gewesen, um seine Botschaften und Werte zu teilen.
In den museums- und medienpädagogischen Angeboten im Museum Johannes Reuchlin kehrt die kulturelle Bildung die geläufige Perspektive um. Sie fragt nicht zuerst nach Person und Wirken Reuchlins. Sondern sie rückt die lebensweltlichen Bezüge der heutigen jungen Generationen in den Fokus. Sie setzt bei alltagsweltlichen Erfahrungen an – wie zum Beispiel der Vielsprachigkeit der allermeisten Kinder und Jugendlichen in Pforzheim – als Brücke zu Reuchlin. Wenn es um die Botschaften und Werte Reuchlins geht, werden gerne die Fairplay-Regeln des Sports aufgerufen oder die allgemeinen Menschenrechte.
Mit diesen Zugängen erschließen sich junge Besuchende eine Welt, die ein halbes Jahrtausend zurückliegt und der sie sich fragend, forschend, mit viel Handlungsorientierung und Kreativität nähern: schreibend mit Kalligrafiestiften, um die Entstehung handgeschriebener Bücher in Reuchlins Bibliothek nachzuvollziehen; filmend im Rollenspiel, um den Konflikt zwischen Reuchlin und Pfefferkorn nachzustellen, oder mit der Green-Screen-Technik performend, um der Wand des Humanismus im Museum Johannes Reuchlin und ihrer Bedeutung für den einstigen Ort von Reuchlins Bibliothek nachzuspüren. Viele Zugänge sind möglich, analoge wie digitale aus dem Modellprojekt »Reuchlin digital«. Und neuerdings auch spielende Annäherungen bei »Reuchlin Escape«. Dabei wird das Museum in einen Escape Room verwandelt. Inzwischen sind – aufgrund der Pandemie – bereits zwei digitale Escape Rooms hinzugekommen, die auch vom heimischen Laptop das Eintauchen in die Welt Reuchlins möglich machen. Also spielend zu Reuchlin, mit kreativen Team- Events und kniffligen Rätseln, um gemeinsam einen Sieg für Freiheit, Toleranz und Mitmenschlichkeit zu erringen.