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Dreifuss, Henriette (jüdisch, KPD, Naturfreunde, Résistance)

Henriette Dreifuss, Tochter von Rosa und Eugen Dreifuss, ist am 6.4.1924 in Pforzheim geboren. Die Familie, dazu gehört auch ihr drei Jahre älterer Bruder Bernhard, zieht bald nach Mannheim um. Der Vater ist Sozialdemokrat und Henriette, genannt Henny, erinnert sich: „Wenn meine Eltern in die Synagoge gingen, dann gingen sie samstags morgens, und samstags nachmittags war‘n wir mit den Naturfreunden* unterwegs.“ Die damals Neunjährige hat noch im hohen Alter den Fackelzug der Nazis am Abend des 30. Januar 1933, der an ihrem Wohnhaus in der Goethestraße vorbeizog, vor Augen: „Wir haben von unserem abgedunkelten Wohnzimmer aus beobachtet, was unten vor sich ging: Sie grölten und marschierten mit Fackeln durch die Straßen.“ Henny Dreifuss erinnert sich auch an die antisemitischen Plakate an Geschäften jüdischer Ladenbesitzer am 1. April 1933 und an Hausdurchsuchungen. Im Oktober 1933 flieht die Familie nach Strasbourg. Vater Eugen erhält als Flüchtling keine Arbeitserlaubnis, er muss die Familie mit Schwarzarbeit über Wasser halten und die aus Mannheim geretteten Möbel nach und nach verkaufen. Die kleine Henny geht in die französische Schule in Strasbourg und dann ab 1939 in Le Havre, als die französischen Behörden deutsche StaatsbürgerInnen von der Grenze weg evakuieren. Zwei Jahre später beginnt sie eine Lehre als Friseuse, die sie bald darauf wieder abbrechen muss, da mit dem Überfall der Nazi-Wehrmacht auf Frankreich die Männer, also Vater Eugen und Bruder Bernhard, von den französischen Behörden „als feindliche Ausländer“ interniert und die Frauen, nämlich sie, Mutter Rosa und die Großmutter Henriette nach Limoges geschickt werden.

Dort findet Henny rasch einen Job als Mädchen für alles - meist ohne Bezahlung außer Essen - in der Pouponnière, einem gerade eröffneten Heim für Emigrantenkinder, Kinder von Spanienfreiwilligen und jüdische Kinder. Kontakte der Heimleiterin Hanna Grunwald zur Secours Suisse, dem Schweizer Kinderhilfswerk, ermöglichen, jüdische Kinder aus dem Lager Gurs in Südfrankreich herauszuholen, meist Kinder aus badisch-pfälzischen Familien, die am 22. Oktober 1940 aus ihrer Heimat verschleppt worden waren. Zum Teil „verschwinden“ Kinder mit Hilfe der OSE (Oeuvre de Secours aux Enfants: jüdisches Kinderhilfswerk) aus dem Heim in Limoges heraus - ausgestattet mit neuen Papieren - in französischen Familien und überleben, andere holt die Polizei des Vichy-Regimes aus dem Heim und bringt sie ins Lager Rivesaltes, zynisch „Familienzusammenführung“ genannt, denn die Eltern waren schon in diesem Lager: Als im Sommer 1942 die Deportationen aus den Lagern im Süden Frankreichs, u.a. aus Gurs und Rivesaltes, in die Vernichtungslager im Osten beginnen und die Vichy-Polizei überall Jagd auf ausländische und französische Juden macht, steht die inzwischen 18-jährige Henny vor drei Möglichkeiten: warten, was passiert, sich verstecken, was möglich ist, oder – wie sie selbst berichtet – „eben etwas dagegen zu tun“.

Mithilfe ihrer kommunistischen Kolleginnen im Kinderheim und eines von Hanns Kralik, einem aus Düsseldorf geflohenen kommunistischen Künstler, gefälschten Ausweises verwandelt sich Henny Dreifuss aus Pforzheim bzw. Mannheim 1943 auf der Fahrt von Limoges nach Lyon in „Marguerite Barbe“ aus Rivel. Wie ca. 3 000 andere aus Deutschland Vertriebene bzw. Geflüchtete schließt sie sich der Résistance, dem Widerstand gegen die Nazi-Besatzung, an. Bei der „travail allemand“ genannten Tätigkeit haben Henny und ihre Mitkämpferinnen den Auftrag, die Stimmung in der Wehrmacht zu erkunden. Bewusst sucht sie Arbeit bei Wehrmachts-Dienststellen, eine Weile als Putzfrau auf dem Flugplatz Lyon-Bron und dann dort in der Telefonzentrale. „Mit meinem Schrubber und meinem Eimer kam ich weit rum und konnte erfahren, was die Leute der Besatzung dachten.“ Bei scheinbar unverfänglichen Gesprächen mit Wehrmachtssoldaten beim Einkauf oder in Cafés fragen Henny und ihre Kolleginnen - auf Deutsch, da sie ja laut ihrer Legende aus dem Elsass stammen - auch nach dem nächsten Urlaub und damit nach der Stimmung der deutschen Besatzungssoldaten. Auf der Grundlage ihrer Berichte entstehen dann Flugblätter des „CALPO“ (Comité Allemagne libre pour l’Ouest, Komitee Freies Deutschland für den Westen), die an Besatzungssoldaten verteilt, an geeigneten Stellen ausgelegt oder zusammengerollt über Kasernenmauern geworfen werden, z.B. Aufrufe zur Weitergabe von Informationen über Truppenbewegungen oder zur Desertion. Nachts kleben „Liebespaare“ „Spuckis“ mit Anti-Kriegs-Parolen an Laternenpfosten.

Henny weiß 1943/44 nichts über ihre Eltern, über ihren Bruder und über ihre Oma. Erst nach dem Krieg, nach der Befreiung, erfährt sie: Ihren Bruder Bernhard verschleppten die Nazis im Februar 1943 aus Rivel südlich von Toulouse über den Eisenbahnknoten Drancy bei Paris ins Lager Majdaneck. Die Eltern Rosa und Eugen gerieten im Herbst 1943 in Barcelonnette in den französischen Alpen bei dem Versuch, nach Italien zu fliehen, in eine Razzia und wurden über Nizza und Drancy mit dem Transport Nr. 64 am 7.12. 1943 ins Vernichtungslager Auschwitz deportiert. Einzig die Großmutter Henriette überlebte in einen Kloster in der Nähe von Limoges.

Nach der Befreiung Lyons Anfang September 1944 kehrt Henny Dreifuss 1945 nach Mannheim zurück. Dort tritt sie der KPD* bei und ist beim Jugendamt beschäftigt. Nach dem Umzug nach Düsseldorf arbeitet sie als Journalistin und engagiert sich in der IG Druck und Papier für die Rechte der Frauen - auch in der Gewerkschaft - und arbeitet in der VVN (Vereinigung der Verfolgten des Nazi-Regimes) mit. Als sie für ihre in Auschwitz ermordeten Eltern als Erbin Haftentschädigung beantragt, wird ihr mitgeteilt, „dass nach aller Erfahrung so alte Menschen im Vernichtungslager allenfalls noch vier bis sechs Wochen gelebt haben“ - Kommentar der Tochter: "Und dann haben sie mir schnöde 450 Mark für meine Mutter angeboten.“ Spät heiratet sie einen Gewerkschaftskollegen, der wie sie als Kind seine Heimat verlassen musste und nach 1945 Mitglied der KPD und der VVN wurde.

In einem ihrer letzten Interviews vor ihrem Tod im September 2017 fasste sie die Erfahrungen nach 1945 zusammen:
„…Kriegsverbrecher wurden kaum bestraft. Die Großindustrie machte schnell wieder ihre Geschäfte und Profite. In den Behörden tummelten sich bald wieder die alten Nazis…Es war eine bittere Erfahrung, mit ansehen zu müssen, wie schon bald mit Duldung der Herrschenden neue neonazistische und rassistische Organisationen und Parteien entstanden und sogar in Parlamente einziehen konnten. So auch heute. Zum Glück stellen nachwachsende Generationen viele Fragen, um deren Antwort ich mich heute als Zeitzeugin immer wieder bemühe.
Immer mehr, vor allem auch junge Menschen, sind heute nicht mehr bereit, die Normalität zu akzeptieren, und stellen sich alten und neuen Nazis in den Weg, wo immer es nötig ist. Das stimmt mich optimistisch.“


 

Quellen:

https://www.jungewelt.de/artikel/75082.la-femme-allemande.html;

www.weltderarbeit.de/lebensbilder3.pdf;

Freyberg, Jutta von u,a,, Wir hatten andere Träume, Frankfurt, 1975, S. 207 f.;